Die SPD: Von der Arbeiterklasse zur neuen Mitte

Wie die Sozialdemokratie sich modernisierte, Wähler verlor und vor neuen Herausforderungen steht. Ein kurzer Abriss der Geschichte und ein Blick in die Zukunft.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wurde 1863 gegründet und ist daher eine der ältesten Parteien im deutschen Parteiensystem (Decker). Im Laufe ihrer Existenz überlebte sie vier verschiedene politische Systeme, zwei Weltkriege und zahlreiche Wirtschaftskrisen (Decker). Auch nach 161 Jahren ihres Bestehens spielt sie weiterhin eine entscheidende Rolle in der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. Doch es ist offensichtlich, dass es einen graduellen Rückgang in der Popularität der Partei gegeben hat. Während die SPD 1969 noch 42,7 % der Stimmen erhielt (Bundeswahlleiter), begann dieser Anteil um die Jahrtausendwende herum allmählich zu sinken. Zwischen 1998 und 2017 ging der Stimmenanteil von 40,9% auf 20,5% zurück (Bundeswahlleiter), und in aktuellen Umfragen zufolge liegt die bundespolitische SPD zwischen 15-16%. Der heutige Newsletter ist heute etwas mehr theoretischer Natur, doch möchte ich heute einen Erklärungsversuch für die starke Abnahme an Wählerinnen und Wählern seit den späten 60er-Jahren wagen und die Rolle von Leistung hauptsächlich dabei untersuchen. Hierbei ist mein Ziel, Euch durch die Parteiprogramme von 1921 bis zur Gegenwart mitzunehmen und zu untersuchen, wie sich die Bedeutung von Bildung und Leistung im gesellschaftlichen Raum über ein Jahrhundert verändert, aber auch, wie sich meritokratische Prinzipien in unserer Gesellschaft verbreiteten — also ein System, indem die gesellschaftliche Vorherrschaft erlangt wird durch Leistung und eigenen Verdiensten.

Gleich vorweg: Der Rückgang sozialdemokratischer Parteien in Europa ist ein Thema, das viele Politikwissenschaftler beschäftigt. In der internationalen wissenschaftlichen Literatur, insbesondere außerhalb Deutschlands, stößt man häufig auf den Begriff des sogenannten „Dritten Weges“ (englisch: third way approach). Dieser hat nichts mit der rechtsextremen Partei „III. Weg“ zu tun. Der Dritte Weg, auch bekannt als modernisierte Sozialdemokratie, ist eine vorwiegend zentristische politische Position, die versucht, die Politik von Mitte-Rechts und Mitte-Links miteinander zu vereinbaren, indem sie eine Kombination aus wirtschaftsliberaler und sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik mit der Sozialpolitik von Mitte-Links verbindet (Colin Hay). Am Bekanntesten wurde er durch den Soziologen Anthony Giddens. Giddens prägte den Begriff, um eine neue Mitte zwischen Neoliberalismus und traditioneller Sozialdemokratie zu beschreiben, die auf die Herausforderungen einer sich rasant globalisierenden Welt reagiert. Die Prinzipien des Dritten Weges wurden erstmals aktiv von Tony Blair übernommen, als er von 1998 bis 2007 Premierminister des Vereinigten Königreichs war (Hay). Gleichzeitig werden diese Prinzipien auch im Zusammenhang mit anderen Mitte-links-Regierungen genannt, wie der Clinton-Administration in den USA, die von 1993 bis 2001 regierte, sowie der deutschen Regierung des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD), die von 1998 bis 2005 im Amt war (Hay). In der aktuellen Forschung wird der Dritte Weg häufig als Erklärungsansatz für den graduellen Abschwung sozialdemokratischer Parteien in Europa herangezogen.

Während einige Wissenschaftler den Dritten Weg als „reinen Neoliberalismus“ kritisieren (Crouch, 157), argumentieren andere, dass die Suche nach einem Dritten Weg zu einem zentralen Bestandteil des Erneuerungsprozesses der Sozialdemokratie in Deutschland geworden sei (Jun, 106). Dieser Ansatz förderte zunehmend die Idee der individuellen Verantwortung für den eigenen gesellschaftlichen Aufstieg (Jun, 106). Der deutsche Dritte-Weg-Ansatz, der von Gerhard Schröder umgesetzt wurde, manifestierte sich in der „AGENDA 2010“ – einer Arbeitsmarktreform, die darauf abzielte, Arbeitssuchende zu ermutigen, eine Beschäftigung zu finden, indem die persönliche Verantwortung betont wurde und Sanktionsmechanismen im Sinne des Förderns und Forderns implementiert wurde (Jun, 106). Die Suche nach einem Alternativmodell zur klassischen Sozialdemokratie, verstärkt durch die zunehmende Globalisierung, prägte im Wesentlichen die Entwicklung der SPD in den letzten Jahrzehnten. Dies zeigt sich unter Anderem in der Argumentation des Politologen Colin Crouch, der feststellt, dass der Dritte Weg zu einer stärkeren Betonung von Bildung als Qualifikationstreiber geführt habe (Crouch, 160). Bildung als Mittel der sozialen Mobilität wurde zum Grundpfeiler des eigenen Aufstiegs in einer marktliberalisierten Gesellschaft, und wichtiges Merkmal sozialdemokratischer Politik in den 60er Jahren. Dieser (absolut richtige!) Fokus auf Bildung führte zwangsläufig zu einem tiefgreifenden Wandel in der Wählerstruktur der SPD. Während die Partei traditionell stark von der Arbeiterklasse unterstützt wurde, verlagerte sich ihre Wählerschaft zunehmend hin zur gut ausgebildeten Mittelschicht. Diese Verschiebung brachte auch eine grundlegende Veränderung in der politischen Ausrichtung der SPD mit sich, da die Interessen der breiten, bürgerlichen Mitte stärker in den Vordergrund rückten und die Partei sich zunehmend an den Bedürfnissen dieser Wählergruppe orientierte — nicht zuletzt auch um in dieser Zeit des Umbruchs auch weiterhin mehrheitsfähig, und damit regierungsrelevant bleiben zu können.

Hanyani, Harvard-Doktorand im Jahr 1999, analysierte ausführlich den Einfluss der Verbourgeoisierung auf die SPD und zeigte besonderes Interesse an den Nachkriegsgenerationen, die er als „wohlhabende postindustrielle Gesellschaft“ bezeichnet (Hanyani, 4). Er kommt zu dem Schluss, dass diese neue Wohlstandsgesellschaft von einer „neuen Mittelschicht“ dominiert wird, die er als anti-autoritär und anti-technokratisch beschreibt. Diese neue Mittelschicht lehnt traditionelle Werte ab und folgt materialistischen, leistungsorientierten Werten der modernen bürokratischen und kapitalistischen Gesellschaften (Hanyani, 6). Hanyani folgert, dass der Dritte Weg, der zur Verbourgeoisierung führte, den Aufstieg einer Neuen Linken in der SPD ermöglichte, die sich stark von der konservativen Arbeiterklasse und der kulturell konservativen Alten Linken unterscheidet (Hanyani, 6). Diese ideologische Spaltung zwischen der Neuen Linken, die mit dem linken Libertarismus assoziiert wird, und der Alten Linken führte seiner Ansicht nach zu internen Konflikten, die bis heute anhalten. Des Weiteren hat die zunehmende Fixierung auf die sogenannten „Leistungsträger“ innerhalb der Gesellschaft, die durch die Bildungsöffnung der 1960er Jahre stark profitierten, gleichzeitig zu einem Entfremdungsprozess jener Menschen geführt, die ursprünglich die Sozialdemokraten unterstützten (Micus, 14). Andere Wissenschaftler bieten alternative Erklärungen für die Verschiebung des Wählerblocks an. So stellt Cuperus fest, dass die Mitte-links-Sozialdemokraten markante Merkmale ihres Profils und ihrer Identität verloren haben, möglicherweise auch, weil die Sozialdemokratie in unserer komplexen Welt nicht mehr eindimensionale, leicht fassbare Themen behandelt (Cuperus, 185). Dieser Verlust prägnanter Merkmale führte dazu, dass die Sozialdemokraten sich zunehmend an einer Mitte-rechts und neoliberal geprägten Politik in den 2000er-Jahren orientierten (Cuperus, 185).

Natürlich greift die SPD auch heute wichtige Themen auf, wie den Arbeitsschutz von Brief- und Paketzustellern, die Situation von Pflegerinnen und Pflegern, die Erhöhung des Mindestlohns, kostenfreie Kitas oder kostenfreie Bildung. Dennoch stellt sich die Frage, ob die Menschen in Deutschland SPD-Politik vielleicht auch deshalb weniger wahrnehmen, weil sich durch die Bewegung hin zur „neuen Mitte“ auch der „Geist“ der Partei sowie wesentliche Identifikationsmerkmale für viele frühere Wähler verändert haben oder sogar verloren gingen. Diese Entwicklung könnte erklären, warum die SPD heute für einige ihrer ehemaligen Unterstützer nicht mehr als die Partei wahrgenommen wird, mit der sie sich traditionell verbunden fühlten. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, wie Cuperus auch betont, dass große politische Parteien – sowohl im Mitte-links- als auch im Mitte-rechts-Spektrum – generell mit den Auswirkungen des Mitgliederrückgangs, der sinkenden Gewerkschaftsdichte und der abnehmenden Parteibindung zu kämpfen haben (Kennedy & Manwaring, 207). Diese strukturellen Herausforderungen sind nicht auf die SPD allein beschränkt, sondern betreffen weite Teile des politischen Spektrums in fortgeschrittenen postindustriellen Gesellschaften.

Kennedy und Manwaring beschreiben in ihrer Arbeit „The dilemmas of social democracy“ genau diese Herausforderungen, die eine sich wandelnde Demografie und neue soziale Strukturen für Mitte-links-Parteien mit sich bringen. Eine zentrale Herausforderung ist die Notwendigkeit, einen stabilen Kernwählerblock aufrechtzuerhalten, um auch weiterhin starke Allianzen bilden zu können, die für den Aufbau und Erhalt einer Regierung erforderlich sind (Kennedy & Manwaring, 206-207). Beide Autoren betonen, dass diese Verschiebung der Wählerbasis möglicherweise auch durch das Empfinden verursacht wurde, dass Mitte-links-Parteien, wie die SPD, keine wirksamen Maßnahmen zur Kontrolle der Migration ergreifen könnten. Zudem werden den Mitte-links-Parteien vorgeworfen, den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt – wie der Gig-Economy und Leiharbeit – nicht mehr gerecht zu werden und grundlegende Verteilungsfragen nicht mehr konsequent in den politischen Fokus zu nehmen (Kennedy & Manwaring, 210).

Die bisherige Forschung hat klar gezeigt, dass der Dritte Weg zu einer signifikanten Verschiebung der Wählerblöcke geführt hat. Es gibt genügend Beweise dafür, dass die Suche nach einer Alternative zur klassischen Sozialdemokratie zu einem Rückgang der Wählerbasis führte – insbesondere durch die Verbourgeoisierung, die als Konsequenz der Bildungsöffnung gesehen werden kann, welche an sich eine absolut positive Entwicklung war. Dennoch bleibt eine Lücke in der Erklärung, wie sich die Idee der Leistung allmählich und systematisch im Parteiprogramm der SPD manifestierte

Ein kurzer Abriss der Grundsatzprogramme der SPD

Während die aktuelle Forschung weitgehend die Auswirkungen einer meritokratiebasierten Gesellschaft auf den Niedergang der Sozialdemokratie untersucht, bleibt eine konzeptanalytische Betrachtung unerlässlich. Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept der Meritokratie und die damit verbundenen Leistungsbegriffe. Meritokratie ist eine Herrschaftsform, in der Personen aufgrund ihrer gesellschaftlich bzw. institutionell anerkannten, individuellen „Leistungen“ oder „besonderer Verdienste“ ausgewählt werden, um führende Positionen als Herrscher, sonstige Amtsträger und Vorgesetzte zu besetzen (Wikipedia). Basierend auf dieser Analyse schauen wir uns nun die Grundsatzprogramme der SPD an — und fangen an mit dem Görlitzer Parteiprogramm von 1921, das kurz nach dem Ersten Weltkrieg verfasst wurde. Es folgt das Heidelberger Parteiprogramm von 1925. Als drittes wird das Godesberger Parteiprogramm von 1959 untersucht, das in Zeiten des Kalten Krieges, der Ost-West-Spaltung und des atomaren Wettrüstens entstand. Zusätzlich wird das Berliner Parteiprogramm von 1989, das nach dem Fall der Berliner Mauer verabschiedet wurde, sowie das Hamburger Programm von 2007, das bis 2022 galt, analysiert.

  • Das Görlitzer Parteiprogramm wurde in der Zeit der ersten deutschen Republik (Weimarer Republik) verfasst, als Deutschland seine erste funktionierende Demokratie aufgebaut hatte (BPB) – eine Demokratie, die aufgrund des Ersten Weltkriegs jung und fragil war; das Parteiprogramm muss daher auch in diesem Kontext gesehen werden. Im Görlitzer Parteiprogramm von 1921 gibt es in der Einleitung eine starke Betonung auf die Arbeit jedes Einzelnen, unabhängig davon, ob es sich um körperliche oder geistige Arbeit handelt und ob die Menschen aus ländlichen oder städtischen Gebieten stammen (SPD 1921, 1). Die SPD stellt fest, dass alle, die sowohl geistig als auch körperlich arbeiten, auf ein gutes Einkommen „aus eigener Arbeit angewiesen sind [...] das dem Gemeinwohl gewidmet ist und für Demokratie und Sozialismus kämpft“. Es wird die Notwendigkeit betont, „kapitalistische Systeme“ zu überwinden, um wahre Gleichheit zu erreichen und neue „Zerstörungen durch Krieg“ zu verhindern (SPD 1921, 1). Zwei zentrale Punkte stehen im Vordergrund der folgenden Untersuchung der Leistung im Hinblick auf Sozial- und Bildungspolitik: erstens die Verhinderung von Kriegen, die durch solide Sozial- und Bildungspolitik unterstützt wird, und zweitens das Erreichen einer Rechtsordnung und einer „gerechten Gesellschaft“, wie in der Einleitung festgehalten (SPD 1921, 1). In Bezug auf die Sozialpolitik des Parteiprogramms wird deutlich, dass die Arbeitsbedingungen für die Arbeiterklasse katastrophal waren; daher wurde ein größeres Augenmerk auf den Schutz von Arbeitern gelegt. Es gibt eine Reihe von politischen Forderungen, die den Arbeitsschutz betreffen, darunter die Begrenzung der Arbeitszeit auf weniger als acht Stunden, das Verbot von Nachtschichten für Kinder und Frauen sowie ein vollständiges Verbot der Kinderarbeit in gesundheitsgefährdenden Bereichen, die Forderung nach bezahltem Urlaub und geplanten demografischen Maßnahmen (Bevölkerungspolitik), die auf die Bedürfnisse der Arbeiterklasse abgestimmt sind (SPD 1921, 3). Sozialpolitische Maßnahmen wurden also eher als Schutzmechanismus für Arbeiter verstanden, um die schlechten Arbeitsbedingungen zu verbessern, als als Mittel, um die Förderung von Leistung zu betonen. Doch im Bereich der Bildungs- und Kulturpolitik waren die Ziele erheblich anders. Die politischen Forderungen beinhalten das Recht jedes Einzelnen auf Zugang zu kulturellen Gütern, was impliziert, dass kulturelles Wissen für alle zugänglich sein sollte. Damals war Bildung nicht kostenlos, und Männer und Frauen wurden getrennt unterrichtet. Daher wurde vorgeschlagen, Bildung gebührenfrei zu machen und beide Geschlechter gemeinsam zu unterrichten (SPD 1921, 4). Die Idee, Bildung für alle zugänglich zu machen, zeigt, wie sich Leistung in der Bildungspolitik manifestiert, da Bildung im Jahr 1921 eher eine Frage des Privilegs war. Sie betonten jedoch nicht die individuellen Vorteile der Bildung oder die Fähigkeiten, die sie vermitteln kann, sondern vielmehr die Rolle der Bildung als Nährboden für das Gemeinwohl.

  • Das Heidelberger Parteiprogramm von 1925 wurde vier Jahre später verfasst. In der Einleitung wird dargelegt, dass sich der Wohlstand zunehmend zugunsten der Reichen konzentrierte und eine neue Klasse von Proletariern entstand, die „ohne Besitz und Gewinn“ zurückblieb (SPD 1925, 1). Das Programm stellt fest, dass auch die Mittelschicht ihren Anteil am „materiellen und kulturellen Fortschritt“ nicht in vollem Umfang erhielt, den die neue Industrie mit sich brachte, die von einigen wenigen dominiert wurde (SPD 1925, 2). In Bezug auf die Sozialpolitik ähneln die Forderungen denen des Görlitzer Programms, allerdings mit einigen Ergänzungen, wie beispielsweise der Einrichtung eines Gerichts, das ausschließlich für arbeitsrechtliche Fragen zuständig ist. Auch wurden Forderungen nach einer staatlichen Überwachung von Unternehmen zur Einhaltung von Arbeitsstandards laut, sowie nach Sozialversicherungen und weiteren staatlichen Unterstützungen zur Förderung von Gesundheit und wirtschaftlichem Wohlstand (SPD 1925, 12). Die Forderungen konzentrierten sich also auch hier eher auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen als auf die Förderung einer Leistungsgesellschaft.

  • Das Godesberger Parteiprogramm von 1959 markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der SPD. Es spiegelt die Zeit des Kalten Krieges und der Ost-West-Spaltung wider und betont die Notwendigkeit einer neuen Grundlage des demokratischen Sozialismus, die „Wohlstand für alle“ schaffen soll (SPD 1959, 3). Es legt großen Wert auf die individuelle Freiheit und die Entwicklung der Persönlichkeit in einer freien Gesellschaft. In diesem Programm wird deutlich, dass die Förderung der individuellen Verantwortung und der persönlichen Entfaltung zunehmend an Bedeutung gewann. Diese Grundsätze wurden auch in der Sozial- und Bildungspolitik der Partei verankert. Bildung wird hier nicht nur als Mittel zur Chancengleichheit, sondern auch als Instrument zur Förderung individueller Fähigkeiten und zur Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt betrachtet (SPD 1959, 15). Der freie Zugang zur Bildung wurde als grundlegendes Menschenrecht definiert, das jedem Bürger zusteht.

  • Das Berliner Parteiprogramm von 1989 wurde nach dem Fall der Berliner Mauer verfasst und reflektiert die veränderten politischen Realitäten in Deutschland und Europa. Die Bedeutung der Arbeit wurde neu definiert: Arbeit wurde nicht mehr nur als Mittel zum Überleben betrachtet, sondern als „Dimension menschlicher Existenz“ (SPD 1989, 25). Auch die Bildungsreformen der SPD verlagerten sich in dieser Zeit von einem Fokus auf Chancengleichheit hin zu einer verstärkten Betonung der individuellen Leistungsfähigkeit. Es wurde zunehmend anerkannt, dass Bildung und kontinuierliches Lernen notwendig sind, um in einer sich rasch verändernden Welt bestehen zu können.

  • Das Hamburger Programm von 2007 galt bis in das Jahr 2021, und war in puncto Bildung die bislang letzte große Reform der SPD. Hier wird Bildung als entscheidender Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt gesehen. Es wird die Notwendigkeit betont, dass der Staat Programme zur beruflichen Weiterbildung finanziert, um sicherzustellen, dass die Bürger die Fähigkeiten entwickeln, die für den Erfolg in einer sich verändernden Wirtschaft erforderlich sind (SPD 2007, 56). Die Idee der Meritokratie, dass der Erfolg eines Einzelnen von seiner Leistung abhängt, ist in diesem Programm tief verwurzelt. Besonders bemerkenswert ist auch die Betonung der Notwendigkeit einer „Kultur der zweiten und dritten Chancen“, in der Menschen, die einen Rückschlag erlitten haben, die Möglichkeit erhalten sollen, ihre Ausbildung nachzuholen (SPD 2007, 61). Diese Maßnahmen verdeutlichen, dass die Idee der Leistung immer mehr in den Vordergrund rückt und ein fester Bestandteil der sozialdemokratischen Politik geworden ist. Jedoch ist auch von Relevanz, dass der sozialdemokratische Händedruck hier das Recht auf Entfaltung vordergründig ist, und die Aufgabe des Staates ist, den notwendigen Rahmen für Selbstentfaltung- und Selbstwirksamkeit zu legen.

DIE SPD muss wieder in blaue Wahlkreise vordringen

Was lernen wir nun zusammenfassend daraus? Zum Einen, dass die Parteiprogramme der SPD im Laufe des letzten Jahrhunderts eine schrittweise, aber dennoch klare Verschiebung hin zu einer Betonung von Leistung und Bildung zeigen. Während in den früheren Programmen der Schutz der Arbeiterklasse und die Förderung von Bildung als Nährboden für Frieden in Deutschland verstanden wurde, verschob sich der Fokus in den späteren Jahrzehnten zunehmend auf individuelle Leistung und Bildung. Diese Veränderung hat zweifellos zur Modernisierung der Partei beigetragen und insgesamt positive gesellschaftliche Entwicklungen angestoßen. Doch während diese Betonung von Leistung und Bildung neue Wählergruppen, insbesondere die gut ausgebildete Mittelschicht, ansprach, führte sie gleichzeitig zu einer Entfremdung von den traditionellen Wurzeln der SPD.

Diese Herausforderung – die Balance zwischen Modernisierung und dem Erhalt der eigenen Identität – bleibt eine der größten Aufgaben, vor denen die SPD heute steht. Und vielleicht muss sie diese Herausforderung mehr denn je adressieren, in sich selbst reinhören und Selbstehrlichkeit- und Offenheit bewahren. Grund alleine dafür ist der Zuwachs populistischer und zutiefst antidemokratischer Parteien, aber auch die Verrohung der Sprache nicht nur weit außen rechts, sondern auch von profilierten Politikern im Mitte-Rechs-Spektrum, die am rechten Rand des politischen Spektrums nach Stimmen und Aufmerksamkeit fischen. Diese Parteien bieten einfache Parolen und schaffen ein Gefühl von Kollektivität, indem sie die benachteiligten Gruppen miteinander ausspielen, und strukturelle Probleme schonungslos für sich instrumentalisieren. Besonders besorgniserregend ist, dass eine Partei wie die AfD eine ganze Gruppe vulnerabler Menschen, gegen ihre eigenen Interessen instrumentalisiert. Die AfD verfolgt eine zutiefst arbeitnehmerfeindliche Agenda: Sie ist gegen soziale Gerechtigkeit, befürwortet Leiharbeit, lehnt Erbschafts- und Vermögenssteuern ab und setzt sich für eine Niedrigbesteuerung von Spitzeneinkommen ein. Während der COVID-Pandemie stimmte die AfD sogar gegen Sonderprämien für Beschäftigte in systemrelevanten Berufen (Deutscher Gewerkschaftsbund). Kurzum: Wer AfD wählt, der wählt gegen seine eigene Interessen und schadet sich selbst. Das gilt es im Kern den Wählern zu vermitteln.

Für mich steht fest: Die SPD wird heute mehr denn je gebraucht. Sie muss sich entschlossen für eine vielfältigere und arbeiterzentrierte Repräsentanz stark machen, alte Wählerschichten zurückgewinnen und sich wieder verstärkt auf ihre Wurzeln besinnen. Sie muss mutig in die Bezirke vordringen, die in der Vergangenheit an populistische oder rechtsgerichtete Parteien verloren gingen. Nur so wird es der SPD gelingen, nicht nur die Stimmen, sondern auch die Herzen der Menschen zurückzugewinnen und ihrer historischen Mission wieder gerecht zu werden.

Solidarische Grüße

Jeremias Thiel